Henriette Reker

Die Oberbürgermeisterin von Köln im Podcast-Interview, Folge #16, veröffentlicht am 5. März 2020

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Henriette Reker ist Oberbürgermeisterin von Köln. Ihr Wort hat internationales Gewicht und ihre Erfahrungen im Amt sind extrem.

Im Oktober 2015 hat sie ein Attentat knapp überlebt. Im Januar 2016 war sie einem Shitstorm ausgesetzt, und bis heute versuchen Rechtspopulisten, sie zu drangsalieren.

Annette Wieners hat für den Podcast „Das Mädchen aus der Severinstraße“ am 25.02.2020 ein Gespräch mit Henriette Reker in Köln geführt. Lesen Sie hier die Abschrift der Tonaufnahme. Die Satzstellung wurde sanft an die Schriftform angepasst.

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Reker: Ich heiße Henriette Reker und bin in Köln geboren worden. Ich bin kein Mitglied irgendeiner Partei – darauf bin ich gar nicht stolz, das hat sich in meinem Leben zufällig so entwickelt. Aber ich kann Mehrheiten finden, und das ist für mich das Wichtige, wenn man eine Stadt managt: Dass man sich um die beste Idee kümmert. Dazu muss man keiner Partei angehören.

Wieners: Der Termin für das Gespräch heute steht schon länger, aber jetzt ist aktuell etwas passiert: Der rassistisch motivierte Anschlag in Hanau vor ein paar Tagen. Da hat ein Rechtsextremist neun Menschen mit Migrationshintergrund erschossen, danach seine Mutter umgebracht – und sich selbst. Wenn so ein Anschlag passiert, wird international sofort auf Sie geguckt, weil Sie auch Opfer eines rechtsterroristischen Anschlags geworden sind. Wie ist das für Sie?

Reker: Ja, mich betrifft das natürlich schon sehr. Aber ich bin auch geradezu allergisch geworden gegen Äußerungen, die auch nur den Hauch eines rechtsextremistischen, antisemitischen oder rassistischen Gedankenguts tragen. Das ist natürlich Folge eines solchen Erlebnisses, dass man wirklich auf der Acht ist, dass da etwas kommen könnte. Eine Literaturnobelpreisträgerin, die hier war, Herta Müller, hat schon vor knapp fünf Jahren gesagt: „Erst sind die Gedanken da, aus den Gedanken werden Worte, und aus den Worten werden Taten.“ Und das erleben wir jetzt immer häufiger. Das bedrückt mich schon sehr.

Wieners: Ich hab mir nochmal die Berichterstattung nach dem Attentat auf Sie angeguckt. Die Bemerkungen, die da fielen, oder die Einschätzungen, decken sich eins zu eins mit dem, was jetzt nach Hanau gesagt wird: Dass die AfD ein Klima schafft, das solche Taten begünstigt, und dass sogenannte Einzeltäter aus diesem Klima hervorgehen. Aber wenn das vor viereinhalb Jahren schon gesagt wurde, und heute wird es wieder genau so gesagt, dann bedeutet das auch, es hat sich überhaupt nichts verändert.

Reker: Also, es hat sich viel zu wenig verändert. Das finde ich auch. Ich habe zum Beispiel ganz klar gesagt, dass ich meine, dass die AfD vollumfänglich vom Verfassungsschutz überprüft werden muss. Und die Menschen müssen spüren, dass wir nicht nur von Integration sprechen, sondern es ernst meinen. Und dass wir sie schützen, wenn sie angegriffen werden, aber auch wenn sie ängstlich sind. Wir müssen ihnen ja die Angst nehmen, in unserer Gesellschaft mit zu leben, mit zu wirken.

Wieners: Ja natürlich, aber warum hat man das nicht schon längst getan?

Reker: Wir versuchen das hier in Köln, indem wir viele Gremien haben, zum Beispiel den Rat der Religionen, zum Beispiel den Integrationsrat…

Wieners: Aber die rechte Gesinnung ist nicht nur ein Kölner Problem. Das heißt, auf Kölner Ebene kann man Institutionen und Initiativen ins Leben rufen, aber es müsste doch gesamtgesellschaftlich viel mehr passieren. Gerade wenn Sie überlegen, dass damals, nach dem Attentat auf Sie, zum Beispiel der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas gesagt hat: „Hass und Hetze im Internet muss härter bestraft werden“ – und heute wird es immer noch nicht härter bestraft. Es gibt zwar erste Schritte, aber es sind Jahre vergangen.

Reker: Ich denke, das Problem ist nicht ernsthaft genug angegangen worden. Das ändert sich jetzt, und ich bin auch der Meinung, allmählich muss die Letzte oder der Letzte verstanden haben, dass deutliche Schritte zu unternehmen sind. Wobei ich damit nicht meine, dass man immer nur Gesetze verschärft, sondern man muss die Anstrengung der Polizei unterstützen, und man muss die Justiz so ausstatten, dass sie auch sehr schnell tätig werden kann. Alles das gehört dazu. Nur dadurch, dass Gesetzte verschärft werden, kann man Dinge auch nicht ändern.

Wieners: Das stimmt. Die Leute müssten vielleicht auch verstehen, was da passiert. Wird denen das denn genug vermittelt?

Reker: Nein, es wird nicht genug vermittelt. Ich selber spreche vermehrt mit Menschen, die vermuten lassen, dass sie sich abgehängt fühlen und dass sie die politischen Zusammenhänge nicht mehr nachvollziehen können. Ich tue das, um diejenigen, die sonst vielleicht den Rattenfängern nachlaufen, so zu informieren, dass sie den Ernst der Lage erkennen.

Wieners: Sehen Sie das denn auch so, dass beispielweise die AfD den Boden dafür bereitet, dass solche Taten wie in Hanau vollzogen werden? Oder der Anschlag wie auf Sie damals oder der Mord an Walter Lübcke?

Reker: Ja, ich bin davon überzeugt, dass die Verrohung in der Sprache und auch in den Handlungen, die auch durch die Propaganda der AfD verursacht ist, dazu beiträgt, dass das möglich ist.

Wieners: Das sehen Sie ja auch hier im Rat bei der Arbeit.

Reker: Ich muss manchmal erleben, dass die AfD hier im Rat sich unterirdisch darstellt, und es werden hier eine Menge Ordnungsrufe fällig. Bisher musste ich noch keinen Saalverweis aussprechen.

Wieners: Es sind ja nur drei Ratsmitglieder, aber die mischen ordentlich auf.

Reker: Ja, es ist eine Fraktion, ausgestattet mit den Rechten, die eine Fraktion im Rat hat. Und das führt zu sehr viel Ungemach, vorsichtig ausgedrückt.

Wieners: Sehr vorsichtig ausgedrückt! Wenn man sich den Facebook-Kanal der AfD anguckt, sieht man sehr viele persönliche Angriffe gegen Sie. Mich hat besonders ein Eintrag von Anfang Februar bestürzt, ich glaube, vom 07. Februar. Da steht einfach nur: „Reker muss weg – Leerzeile – P.S.: In demokratischen Wahlen“. Allein dieses „P.S.: In demokratischen Wahlen“ … Da schwingt ja mit: Es gibt auch andere Methoden, um Reker „wegzumachen“.

Reker: Es ist schon ausgesprochen verletzend, wenn die AfD mit Plakaten spazieren geht, wo meine Fotografie rot durchgekreuzt ist, und die Farbe läuft dann so runter, als könnte es auch Blut sein. Das ist schon bemerkenswert, aber ich kann dagegen nicht vorgehen.

Wieners: Also man hat keine Möglichkeiten?

Reker: Dagegen nicht. Nein, das ist eine Form, die noch nicht justiziabel ist. Da ist eben auch unsere Rechtsprechung gefragt. Frau Künast durfte das ja jetzt auch gerade erleben, dass man ihr alle Hässlichkeiten an den Kopf werfen kann, die ich gar nicht aussprechen mag.

Wieners: Sie haben das Attentat vor viereinhalb Jahren knapp überlebt. Hat man das damals ernst genug genommen, was Ihnen passiert ist?

Reker: Ich glaube, man hat das Attentat auf mich nicht so ernst genommen, wie es wichtig gewesen wäre. Und man ist nicht rechtzeitig damit umgegangen, dass es sehr viele Nachfolgetaten geben wird. Es ist schwierig, eine Gesellschaft zu gestalten. Ich bin aber der Meinung, dass sich Parteien … nur weil sie auf demokratische Weise gewählt werden, können sie sich nicht alles erlauben! Darauf zieht sich die AfD ja immer wieder zurück, sie seien demokratisch gewählt. Und sie nutzen die Möglichkeiten und Freiheiten der Demokratie, um die Demokratie abzuschaffen. Das geht nicht.

Wieners: Es kam natürlich ein zweites Ereignis ziemlich schnell danach, nämlich die Kölner Silvesternacht, die wieder für bundesweite Schlagzeilen gesorgt hat. Am Kölner Hauptbahnhof und vor dem Dom gab es massenhafte Übergriffe, sexuelle Übergriffe in der Silvesternacht. Überwiegend von Menschen mit Migrationshintergrund, die hier als Flüchtlinge in Köln oder in der Umgebung waren oder auch angereist waren. Es hat Tage gedauert, bis das ganze Ausmaß dieser Kölner Silvesternacht öffentlich gemacht wurde oder von den Leuten richtig verstanden wurde. Was man heute noch damit verbindet, ist: Sie hätten damals den Frauen, die diese Übergriffe erlitten haben, eine Mitverantwortung in die Schuhe geschoben, indem Sie gesagt hätten: „Naja, als Frau muss man auch eine Armlänge Abstand halten.“ Das war wenige Wochen nach dem Attentat auf Sie. Da brach ein Shitstorm über Sie herein. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Reker: Aus meiner Wahrnehmung ist es so gewesen: Ich war ja wenige Wochen im Amt, als Silvester hier diese kriminellen Übergriffe von Männern auf Frauen passierten. Die Polizei hat die Stadt nicht umfänglich darüber informiert, was passiert ist. Das haben wir ja – Gott sei Dank – durch die Presse nach und nach erfahren. Ich wurde in einer Pressekonferenz gefragt, was man dagegen machen könnte, dass sowas passierte, und ich habe verwiesen – und das war ein Fehler von mir -, ich habe verwiesen auf eine Broschüre, die die Stadt herausgegeben hat für…

Wieners: Die Broschüre existierte schon?

Reker: Die Broschüre existierte schon viele Monate für Mädchen und junge Frauen mit Tipps, wie man sich überhaupt schützen könnte. Da habe ich also das Beispiel genannt, dass man in der Gruppe bleiben soll, dass man seine Getränke nicht aus dem Auge lassen soll und so weiter. Und dann kam als drittes auch der Satz von der Armlänge Abstand. Wobei: Keine Frau hätte sich durch eine Armlänge schützen können, das war mir auch bewusst. Ich bin mit dem Shitstorm ganz gut zurechtgekommen, weil ich der Meinung war, jede einzelne Frau, die in diese Silvestervorfälle verwickelt war, hat ein viel schrecklicheres Schicksal erlitten als ich, die nur diesen Shitstorm über sich ergehen lassen musste.

Wieners: Aber es sind zwei massive Ereignisse gewesen, das Attentat auf Sie und die Silvesternacht, und dann hatten Sie Ihre ganze Amtszeit noch vor sich.

Reker: Ja, das war ein belastender Einstieg, aber ich neige dazu, aus Problemen, aus Herausforderungen, Strukturen zu machen. Ich habe die Sicherheitslage mit einem neuen Polizeipräsidenten, durch Ordnungspartnerschaften mit der Polizei erhöht, wir haben eine Sicherheitskonferenz, vierteljährig…. Also, ich versuche immer, daraus Strukturen zu machen, die die Stadt weiterbringen.

Wieners: Ich habe mit meinem Roman die NS-Vergangenheit der Stadt Köln angesprochen und auf eine vielleicht etwas ungewöhnliche Weise aufgefächert. Daraufhin habe ich sehr viele Reaktionen von Kölnerinnen und Kölnern bekommen, die gesagt haben: Das habe ich überhaupt nicht gewusst, dass Köln so ein Nazi-Nest war, vor dem zweiten Weltkrieg. Wie kommt es, dass das so unbekannt ist? Kommen rechte Tendenzen immer auf leisen Sohlen daher und werden auch schnell wieder vergessen?

Reker: Also,  ich bin ja gebürtige Kölnerin, mein Vater ist auch gebürtiger Kölner, und meine Mutter ist aus Niederschlesien geflohen nach Köln. Beide Eltern waren 25, als der Krieg zu Ende war. Sie haben den Krieg gesund überlebt, mit großen Entbehrungen, aber sie haben… Mein Vater ist mit 55 Jahren schon verstorben, er hat nie über die Nazizeit und den Krieg mit mir gesprochen. Er wollte dieses Thema vermeiden. Meine Mutter hat als 95-jährige alte Frau angefangen, mit mir über den Krieg zu sprechen.

Wieners: Mit 95 erst?

Reker: Mit 95 Jahren. Und auch über das, was sie erlebt hat als Flüchtlingsfrau, die nach Köln kam… Die Kölschen haben dann gesagt: „Wo kütt die denn her, die kütt vun da hinge irgendwo her.“ Sie war eine Frau, die sehr dunkle Haare hatte und olivfarbene Haut, sehr dunkle Augen. Das hat mich auch sehr geprägt, von meiner Mutti zu hören, dass niemand aus Jux und Dollerei seine Heimat verlässt. Meine Mutter hat mir auch immer schon gesagt, dass die Kölschen auch häufig im Nachhinein auf der Sonnenseite stehen.

Wieners: Im Nachhinein! Das heißt, sie drehen sich das schön hin?

Reker: So. Und das mag in einer so schwierigen Situation, in der ja viele Menschen gewesen sind, weil sie den Mut nicht gehabt haben, dagegen aufzustehen, und mitgelaufen sind – das mag viele im Nachhinein zu einem Verdrängungsprozess verleitet haben.

Wieners: Aber es spricht sich auch heutzutage immer noch nicht richtig rum.

Reker: Das erlebe ich anders. Ich denke schon, dass die Kölner von ihrer Vergangenheit, von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit, inzwischen einen Eindruck bekommen. Wir haben das NS-Dokumentationszentrum im EL-DE-Haus. Da wo früher die Mitmenschen, die dem Judentum zugerechnet wurden, verhaftet waren, gesessen haben, im Gefängnis waren. Wir haben die Dokumentationsstätte am originalen Ort…

Wieners: Ja, die hat mir auch geholfen bei der Recherche zum Roman. Aber bewegt sich das nicht immer wieder in derselben Blase? Immer in den gleichen Schleifen, so dass man die Leute, die da nicht unmittelbar erreicht werden, auch verlieren könnte? Und dass die uninformiert bleiben?

Reker: Aber gerade Sie haben doch durch Ihren Roman dazu beigetragen, auch vielleicht eine Gruppe von Menschen anzusprechen, die sich sonst nicht so darüber informiert hätte! Gerade wenn man eine Geschichte erzählt, ist das ja viel lebendiger, als einen Museumskatalog durchzuarbeiten. Also davon bräuchten wir noch mehr! Sie müssen noch etwas mehr schreiben.

Wieners: Mich hat das ja überrascht, auch die Reaktionen auf den Roman. Dass diese Unwissenheit da war, und dass die Leute auch froh waren, überhaupt etwas darüber zu hören und einen neuen Zugang zu haben – zum Beispiel über eine Geschichte. Aber dann stimmen Sie ja zu, dass man nach neuen Wegen suchen muss, um die Menschen zu erreichen.

Reker: Ja, vor allen Dingen dürfen wir damit nicht nachlassen. Es gibt ja jetzt die Jugendlichen, die wahrscheinlich die Menschen gar nicht mehr kennenlernen werden, die den zweiten Weltkrieg erlebt haben. Und da müssen wir uns andere Wege überlegen, sie zu erreichen. Denn eins steht für mich fest: Was im zweiten Weltkrieg geschehen ist, diese Barbarei, der Völkermord, der darf nie wieder geschehen. Und da müssen wir sehr früh ansetzen. Einmal mit Information, aber auch mit Achtsamkeit gegenüber denen, die ein antidemokratisches,  rassistisches, antisemitisches Gedankengut verbreiten.

Wieners: Dann können wir zum Schluss uns selbst nochmal mit der Sonnenseite befassen, oder mit dem Wunsch, alles auf die Sonnenseite zu drehen: Ich denke manchmal, es ist das einzig Positive, das aus den Zuständen entsteht, die wir im Moment haben, und auch aus den Attentaten und aus versuchten Attentaten, dass wieder mehr darüber geredet wird. Und dass die Leute sich wieder mehr zusammenschließen und sagen: „Keinen Millimeter nach rechts.“

Reker: Es ist ein ganz, ganz kleiner Trost für die Familien, die dieses schwere Schicksal tragen müssen. Aber es ist auch ein Anlass, sehr nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass sich in unserer Gesellschaft wieder etwas verändert, das wir nicht zulassen dürfen.

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