Leon Sachs

Der Kölner Schriftsteller und Journalist im Podcast-Interview, Folge #9, veröffentlicht am 28. November 2019

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Leon Sachs stammt aus einer Familie mit KZ-Überlebenden. Seine Großeltern haben sich kennengelernt, als sie aus den Vernichtungslagern im Osten nach Köln zurückkehren wollten. Leon ist Jude. Er lebt gern in Deutschland, in Köln, aber er wird die Erzählungen seiner Großmutter nie vergessen.

Annette Wieners hat für den Podcast „Das Mädchen aus der Severinstraße“ am 22.11.2019 ein Gespräch mit Leon Sachs geführt. Lesen Sie hier die Abschrift der Tonaufnahme. Die Satzstellung wurde sanft an die Schriftform angepasst.

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Sachs: Mein Name ist Leon Sachs, ich bin Journalist und Autor, 37 Jahre alt und lebe in Bonn.

Wieners: Und du bist Jude.

Sachs: Ja, ich bin Jude.

Wieners: Schon von Geburt an oder bist du später konvertiert?

Sachs: Von Geburt an. In dem Fall läuft das – bei mir zumindest – über das mütterliche Prinzip im Judentum.  Meine Mutter ist Jüdin, und deswegen bin ich es auch.

Wieners: Ihre Eltern sind auch Juden gewesen. Sie sind wahrscheinlich schon tot: deine Großeltern.

Sachs: Genau, ja, also Leo Sachs und Vella Sachs, das sind meine beiden Großeltern. Sie sind beide Juden gewesen, polnische Juden von Geburt her. Meine Großmutter kam aus der Nähe von Krakau und mein Großvater aus der Nähe von Kattowitz. Und dann haben die beiden sich nach dem Krieg kennengelernt.

Wieners: Aber dein Großvater hatte vor dem Krieg hier in Köln schon einmal eine jüdische Familie.

Sachs: Ja.

Wieners: Was ist mit der passiert?

Sachs: Er hatte eine Frau, und als es dann in Deutschland eng geworden ist, haben sie das – wie viele andere – relativ spät realisiert. Sie haben noch versucht,  den Sohn außer Landes zu bringen. Das hat funktioniert, er lebt bis heute in den USA. Die beiden selbst haben es aber nicht mehr geschafft und sind deportiert worden.

Wieners: In ein Konzentrationslager.

Sachs: Genau. Und meine… wie nennt man die Verwandte dann?

Wieners: …die erste Frau deines Großvaters…

Sachs: Die erste Frau meines Großvaters hat nicht überlebt. Er hat überlebt. Er wurde befreit und hat auf der Flucht aus dem KZ  meine Großmutter kennengelernt, die gleichzeitig in Auschwitz befreit worden war.

Wieners: Also beide Großeltern von dir sind KZ-Überlebende?

Sachs: Ja, meine Großmutter als Jüdin in Krakau… Jeder, der Schindlers Liste gesehen hat, weiß, was das bedeutet. Sie hat selbst mal zu mir gesagt, dass sie das Schicksal durchgemacht hat, das man aus ‚Schindlers Liste‘ kennt, nur dass sie eben nicht auf dieser Liste gestanden hat. Ich fand sehr bemerkenswert, dass sie … das wusste ich damals aber gar nicht … dass sie, als der Film rausgekommen ist, zu meinem Vater gegangen ist und gesagt hat: „Ich möchte den gerne im Kino anschauen.“ Sie wollte das unbedingt sehen! Und sie ist dann mit meinem Vater ins Kino gegangen, hat diesen Film gesehen, also quasi von ihrem eigenen Leben. Für meinen Vater war das damals – wie für viele, viele Menschen, die den Film gesehen haben – sehr schockierend. Er hat da erst wirklich realisiert, welche Geschichte hinter meiner Großmutter steckte. Und er hat von ihr gesagt bekommen: „Es ist ein guter Film, aber er kann nicht die Wahrheit abbilden.“

Wieners: Inwiefern nicht?

Sachs: Das Leid der Menschen ist nicht fassbar auf einer Leinwand.

Wieners: Hast du denn realisieren können, was hinter dem Leben deiner Großmutter steckt?

Sachs: Ich habe versucht, es ein bisschen herauszufinden. Ich habe versucht, mich dem zu nähern, über viele, viele Jahre. Ich habe gemerkt, dass mich das früh interessiert hat, schon als Teenager, und ich war der einzige in der Familie, der es geschafft hat und sich vielleicht auch getraut hat, sich mal mit ihr hinzusetzten. Ich habe bei  Kaffee und Kuchen bei ihr im Wohnzimmer gesessen und diese typische Frage gestellt: „Omi, wie war das denn damals?“ Und da hat sie sich irgendwann geöffnet und mir ganz viel erzählt. Ich habe auch sehr viel mitgeschrieben und ich habe die Unterlagen bis heute noch.

Wieners: Du hast sie heute sogar mitgebracht. Finde ich toll: Briefe von deiner Großmutter, auch getippte Sachen… Du hast das zusammengefasst?

Sachs: Ja, das hat so viele Jahre…. Also dieses eine Gespräch war das sehr umfassende, und dann über die Jahre… hat es dazu geführt, dass… Als ich im Studium war, nicht in Köln, haben mein Bruder und ich, weil wir am gleichen Ort studiert haben, ihr Briefe geschrieben. Wir haben über unser Leben im Studium erzählt und am Ende  immer die Frage gestellt: Was gibt es denn bei dir, das du uns erzählen möchtest? Und sie hat dann die Geschichte erzählt, wie sie aus dem KZ befreit wurde, aus Auschwitz. Wie sie geflohen ist vor den Russen. Wie man ihr gesagt hat…. von wegen: „Die kommen aus dem Osten, mal gucken wie es euch da ergeht. Flieht lieber Richtung Westen, auch wenn es bedeutet, Richtung Deutschland zu ziehen.“ Und da hat sie dann irgendwann mal auf einem Kartoffelacker gearbeitet, in einer Scheune übernachtet, auf der Flucht. Und jemand kam vorbei, der sagte: „Ihr seid ja auch Juden, kommt mit, ich nehme euch mit nach Köln. Ich weiß, dass es da mal eine große Kölner Synagoge und eine Gemeinde gegeben hat. Ich möchte gerne wissen, wer da noch da ist, ich nehme euch gerne mit, ich weiß den Weg.“

Wieners: Das war dein Großvater

Sachs: Das war mein Großvater. So haben sie sich kennengelernt.

Wieners: Dein Großvater hat seine erste Frau durch die Nazis verloren; sie haben seine erste Frau ermordet. Sein Kind musste im Ausland leben – und er wollte nach Köln zurück, wo er all das erlebt hat!

Sachs: Ich glaube, es hat damit zu tun, dass zunächst einmal natürlich die politische Situation in Polen unsicher war, weil eben der Krieg dazu geführt hatte, dass die Russen auf dem Vormarsch waren. Man wusste zunächst einmal nur: „Okay, wir gehen jetzt mal nach Köln und dann gucken wir, wie es weitergeht.“ Man hat ja keine Pläne gemacht, sondern man hatte so ein bisschen das Gefühl: „Naja, wenn der Krieg jetzt wirklich vorbei sein sollte, dann hat Deutschland vielleicht dazugelernt und vielleicht ist es sogar der beste Ort, um dort erst einmal zu bleiben.“ Ob das… oder wie schwer das war nach dem Krieg, das kann ich nur schwer beantworten. Ich glaube, dass es eine große Rolle gespielt hat, dass man zunächst unter sich geblieben ist, unter den Juden, die überlebt haben. Ich glaube, dass der Kontakt zu Deutschland erst im Laufe der Jahre dazugekommen ist. Ich glaube, dass das ein Prozess war. So stelle ich es mir vor: Dass das über viele Jahre ein sehr schwieriger Prozess war, darum ist man zunächst einmal unter sich geblieben.

Wieners: Eine ganz gute Schutzmaßnahme. Denn man konnte in Köln auf der Straße ja immer noch den Tätern begegnen. Es waren viele noch hier oder sind wieder hierher nach Köln zurückgekommen.

Sachs: Und die große Frage ist dann immer: Wem kann man überhaupt vertrauen? Und zunächst geht man eher davon aus, man kann den Leuten vertrauen, mit denen man im KZ überlebt hat. Mit denen man den gleichen Glauben teilt. Und von da aus muss man ja überhaupt erstmal anfangen, wieder an Vertrauen für ein Leben zu gewinnen, das ja wirklich zerstört war. Meine Großmutter ist 1924 geboren, sie ist mit 15 ins Getto gekommen und hat zwischen 39 und 44 ihr Leben im Ghetto und im KZ verbracht. Das sind prägende Jahre eines Menschen, und wenn man dann mit Anfang 20 aus so einem Krieg herauskommt, aus solchen Erlebnissen, dann, glaube ich, braucht es sehr, sehr viel, um wieder Vertrauen zu irgendwelchen anderen Menschen zu fassen.

Wieners: Auf jeden Fall. Konnte sie denn über die Zeit im Ghetto und im KZ reden?

Sachs: In Teilen. Sie hat mir gegenüber ein bisschen ihren Arbeitsalltag geschildert. Sie hat erzählt, was sie gesehen hat oder was sie gehört hat. Sie sagt, das Schlimmste waren für sie die Dinge, die man gehört, aber nicht gesehen hat.

Wieners: Was war das?

Sachs: Die Schüsse, beispielweise im Arbeitslager. Man wusste: „Wieder einer.“ Für mich als Teenager war es sehr schwer, mir vorzustellen, wie ein Mensch tatsächlich so etwas durchlebt. Ich hab nur gemerkt, dass ich Krieg und KZ nicht miteinander in Verbindung bringen durfte. Es schien etwas ganz anderes zu sein. Das eine war der Zweite Weltkrieg. Und das andere war der Holocaust.

Wieners: Wer machte diesen Unterschied, deine Großmutter – oder war es bei dir im Kopf?

Sachs: Bei mir im Kopf entstand dieser Unterschied. Ich glaube, es war das erst Mal, dass ich wahrgenommen habe, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust und die Shoah etwas ganz verschiedenes sind. Etwas, das man voneinander trennen muss. Das eine ist ein Krieg, der politische Überlegungen hatte, der wirtschaftliche Überlegungen hatte, der natürlich auch ideologische Überlegungen hatte. Aber die  Shoah ist nochmal etwas ganz anderes.

Wieners: Aber das würde ja bedeuten, dass es auch ohne Antisemitismus den Krieg gegeben hätte. In meiner Vorstellung…. Ja, kann man das gar nicht trennen, sondern es hat dieselbe Wurzel. Aber im Erleben wurde es getrennt?

Sachs: Ja genau. Ich glaube, das ist das Entscheidende. Ich glaube, im Erleben kann man diese Bereiche trennen. Meine Großmutter hat es zumindest so ausgedrückt: Sie war Teil des Holocaust, aber nicht Teil des Krieges. Vielleicht kommt daher auch mein Gefühl, das sich dahinter verbirgt. Sie hat sich als Jugendliche, die in Polen gelebt hat und dann in ein Ghetto gebracht wurde… Sie hat von dem Krieg praktisch nichts mitbekommen. Sie wurde irgendwann einkassiert, in ein Ghetto gesperrt, dann in ein Arbeitslager, dann ins KZ. Vom Krieg draußen hat sie nichts mitbekommen. Und ich glaube, dass das dazu geführt hat, dass für sie der Holocaust existiert hat und der Krieg etwas war, das überall um sie herum stattgefunden hat, aber nicht in der Welt, in der sie gelebt hat. Den Krieg hat sie erst in der Auswirkung später kennengelernt. Und ich glaube, deshalb kommt diese Abspaltung zustande in den Köpfen. Oder zumindest im Kopf meiner Oma.

Wieners: Und als sie davon erzählt hat, wie hat sie auf dich gewirkt?

Sachs: Ich glaube, sie wollte, dass irgendjemand aus unserer Familie ein bisschen mehr darüber weiß. Ich glaube, sie war zuerst überrascht, dass ich sie gefragt habe. Wobei ich schon mal über meine Mutter hab vorfühlen lassen, ob das okay für sie wäre… und dann wusste ich „Okay, ich kann zumindest mal diese Frage stellen und muss dann warten, was passiert“. Das war ein sehr langes Gespräch mit sehr vielen Pausen zwischendurch. Auch mit ganz leckerem Kuchen, weil das immer dazugehört hat bei meiner Oma…. Und so war es ein Gespräch, das ich als eines der wichtigsten in meinem Leben in Erinnerung behalten habe und deswegen auch aufzeichnen wollte.

Wieners: Deine Mutter ist also Tochter von zwei KZ-Überlebenden. Du bist Enkel von KZ-Überlebenden. Welche Auswirkungen hatte das auf eure Familie?

Sachs: Ich glaube, dass ich persönlich kaum Auswirkungen gespürt habe. Dass ich aus einer Familie stamme mit KZ Überlebenden…. Meine Mutter… Für sie war das sehr spürbar zu Hause. Sie ist 1947 geboren. Sie hat in einem jüdischen Haushalt gelebt, in dem diese offene Tür existiert hat, die in vielen jüdischen Häusern zu der damaligen Zeit gang und gäbe war….

Wieners: Was ist das?

Sachs: Menschen aus der Gemeinde konnten jederzeit kommen und gehen, wie sie wollten. Es war eine offene Tür, die bedeutete, das Haus meiner Großeltern, das Wohnzimmer, war ein Ort der Begegnung. Man ist gekommen, man ist gegangen, man hat Kaffee getrunken, hat Essen mitgebracht. Man hat zusammengesessen und man hat über den Krieg geredet oder über den Holocaust. Und das kann ich beispielsweise nicht mehr genau sagen, aber ich habe es entsprechend von meiner Mutter geschildert bekommen und kann mir vorstellen, dass das natürlich für sie eine ganz besondere Zeit war zu Hause: Weil sie auf der einen Seite unbelastet als Kind aufwachsen sollte, auf der anderen Seite aber genau gesehen hat, dass es fast kein anderes Thema zu Hause gegeben hat

Wieners: Aber sie hatte nichts dagegen, dass du dich da so intensiv mit befasst?

Sachs: Ich glaube, sie hat sich nicht gewundert, dass sich das irgendwie bei mir ergeben hat. Ich war schon immer an dem Thema Religion interessiert. Warum bin ich überhaupt jüdisch und was bedeutet das? Und ich glaube, sie hat gemerkt, dass das etwas war, was mich begeistern konnte. So war sie wohl weder überrascht, dass ich mit meiner Großmutter gesprochen habe, noch dass ich die Briefwechsel mit meiner Großmutter hatte – und dann später nochmal an die Uni gegangen bin, obwohl ich schon mitten im Berufsleben gestanden habe. Aber ich hab gesagt: „Ich will raus, ich will nochmal das Thema Religion näher kennenlernen, tiefer eintauchen.“ So dass ich an die Uni gegangen bin, um das zu studieren.

Wieners: Wie äußert sich denn das Judentum in deinem Alltag?

Sachs: Nur sehr gezielt, sehr ausgewählt. Dass ich mal an den Feiertagen in die Synagoge gehe, dass wir zu Hause in der Familie mal den Schabbat feiern oder eben ein Feiertagsessen haben.

Wieners: Was ist der Schabbat?

Sachs: Der Schabbat ist unser Feiertag in der Woche, mit dem Zusammensitzen in der Familie am Freitag. Das ist eine Tradition, die viele Familien pflegen: dass man Freitagsabends zusammenkommt. Der Samstag ist dann der Schabbat, aber letztendlich ein Tag, der für mich wie jeder andere ist, zumal ich im anderen Leben noch Sportreporter bin und der Sport sehr häufig am Samstag stattfindet – weshalb ich am Samstag arbeiten muss, obwohl es eigentlich laut Schabbat nicht erlaubt wäre. Aber der Freitagabend ist für mich der wöchentliche jüdische Tag – oder Moment, sagen wir es mal so. Ohne dass wir gewisse gläubige Abläufe hätten. Wir halten unsere zwei, drei Traditionen und das war‘s, das genügt aber auch.

Wieners: Interessant. Du beschreibst dich also als Jude, der auch ein jüdisches Leben führt. Das Judentum gehört zu deiner Persönlichkeit, du trägst aber zum Beispiel keine Kippa und trotzdem ist das fest verwurzelt in dir. Das hat doch bestimmt mit deiner Familiengeschichte zu tun?

Sachs: Ich glaube, dass die Familiengeschichte die treibende Kraft dahinter ist und immer war. Dass ich mich überhaupt mit dem Thema Religion auseinandergesetzt habe…  Ich habe mein erstes Buch nur wegen meiner Familiengeschichte geschrieben. Allerdings kamen so viele Rechercheideen und Kontakte zustande, dass es am Ende eine fiktionale Geschichte geworden ist, aber wer unsere Familiengeschichte sehr gut kennt, findet da zumindest das Eine oder Andere als Hintergrund.

Wieners: Und du machst dir Gedanken über politische Themen. Aktuelle politische Themen. Ich hab in einem Zeitungsbericht ein Zitat von dir gefunden, da sagst du, dass die meisten Konflikte dadurch entstehen, dass die Menschen viel zu wenig wissen, und zwar sowohl über ihre eigene Religion als auch über die Religion der anderen. Das fand ich sehr spannend.

Sachs: Ich glaube, dass wir in einem Land leben, das sich auf die Fahnen schreibt, ein sehr offenes Land zu sein. Ich glaube, dass wir in den letzten Jahren aber gemerkt haben, dass wir in einigen Bereichen unserer Gesellschaft das nicht so erleben. Dass dieses Erlebnis, obwohl es sich einige nicht eingestehen, doch mit der religiösen und gesellschaftlichen Historie dieses Landes zu tun hat. Und worauf basieren religiöse Vorurteile? Sehr häufig auf antisemitischen Vorurteilen, die sich über Jahrhunderte entwickelt und geprägt haben. Und das bezieht sich jetzt nicht nur auf das Judentum, sondern eben auch auf den Islam.

Wieners: Sag mal ein Beispiel.

Sachs: Ein Beispiel wäre, dass ich gefragt werde – jetzt nicht nur bei der aktuellen Wahl in Israel, sondern auch schon bei vorherigen – ob ich denn als Jude in Israel gewählt hätte. Das klingt jetzt nach einer lustigen Frage, weil ich ja Deutscher bin. Und warum kommt jemand auf die Idee, mich zu fragen, ob ich in Israel gewählt hätte!? Ich glaube aber, dass der Ursprung dieser Frage nicht Unwissenheit ist, sondern eine Art von infrage stellen, ob Juden ein Herkunftsland haben. Wie häufig haben wir schon Formulierungen gehört, dass beispielweise in den Medien bei einer Veranstaltung berichtet wurde: „ Hier haben sich wunderbar viele Menschen eingefunden aus Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, Türkei und Juden.“ Und ich frage mich dann häufig: Ja, Moment, wo kommen die Juden denn her? Sehr häufig werden nationale Zugehörigkeiten nicht mit dem jüdischen Glauben in Verbindung gebracht. Und wenn man mir die Frage stellt, ob ich in Israel gewählt habe, obwohl der- oder diejenige weiß, dass ich Deutscher bin, dann denke ich mir: Okay, da versucht gerade jemand, ohne es zu merken, meine Nationalität infrage zu stellen, meine Herkunft infrage zu stellen. Und das ist etwas, das über viele, viele Jahrhunderte gang und gäbe war. Juden galten sehr, sehr lange – und gelten teilweise bis heute noch immer – als staatenlos. Und das ist etwas, das mich persönlich berührt, weil ich denke: Diese Frage ist vielleicht nicht antisemitisch gemeint, in den allermeisten Fällen ganz bestimmt nicht, aber sie ist ein Beispiel, dass auf der einen Seite immer noch antisemitische Vorurteile vorherrschen, und, jetzt auf Israel bezogen: dass Israel als Land als Symbolträger genutzt wird für diesen Antisemitismus. Dass er sich verlagert hat, dass sich das Ganze jetzt auf Israel projiziert hat.

Wieners: Du hast eben die Moslems erwähnt. Welche Rolle spielen die dabei deiner Ansicht nach?

Sachs: Es gibt ja die große Diskussion, ob die Muslime in Deutschland mittlerweile eine ähnliche Rolle einnehmen wie die Juden viele Jahrhunderte lang in Europa. Wenn man – auch in deinem Podcast – Auszüge aus den Reden der Nazis in den 1930er Jahren hört, da kann man sich, was die Sprache damals angeht, einiges herausziehen, das man heute in der Sprache der Rechtsextremen wiederfindet, die sich dann aber nicht vornehmlich gegen Juden, sondern gegen Muslime richtet.

Wieners: Es wird aber auch andersherum geredet: Dass die Muslime den Antisemitismus nach Deutschland zurückgebracht haben.

Sachs: Was ja bedeuten würde, dass er aus Deutschland verschwunden war.

Wieners: Ja richtig, stimmt.

Sachs: Was natürlich eine Farce ist. Er war nie weg, das ist eine große Lüge derjenigen, die ihn gerne unter den Tisch kehren möchten. Ganz bestimmt haben die Muslime ihn nicht zurückgebracht. Es ist mit Sicherheit so, dass es Spannungen und auch entsprechende Vorurteile zwischen Muslimen und Juden gibt, die auch historisch bedingt sind und über viele Jahrhunderte zurückgehen, aber das ist kein Antisemitismus, der jetzt nach Deutschland importiert wurde und jetzt ist er plötzlich wieder da. Das ist die Lüge der Antisemitem in Deutschland, die es aber immer gegeben hat.

Wieners: Fühlst du dich in Deutschland heute unsicherer als noch vor fünf Jahren?

Sachs: Nein. Ganz klares Nein. Ich habe ganz wenige Erfahrungen gemacht – oder auch nur im Bekanntenkreis gehabt -, bei denen ich das Gefühl hatte, es hat sich für mich ganz persönlich etwas verändert. Ich weiß natürlich, dass viele andere Juden anders denken. Ich weiß auch, dass wir im Freundes- und Bekanntenkreis und im Familienkreis diese Vorfälle diskutieren und überlegen, was vielleicht daraus irgendwann einmal resultieren könnte. Aber ich persönlich fühle mich nicht unsicher. Ich nehme nur zur Kenntnis, dass die rechtsradikale Größe in Deutschland wieder sehr viel mächtiger geworden ist, als sie vor einigen Jahren noch war.

Wieners: Und so ein Anschlag wie in Halle vor nicht allzu langer Zeit, wo jemand versucht hat, in eine Synagoge einzudringen, die voll besetzt ist, und möglichst viele Menschen zu ermorden – wie empfindest du das?

Sachs: Vielleicht bin ich da ein bisschen pragmatisch, aber für mich kam das nicht überraschend. Dieser Gedanke: „So etwas passiert nur in anderen Ländern“, ist auch wieder ein Teil des Wegschiebens potenzieller Verantwortung, des Wegscheibens potenzieller Gefahren. Ich glaube, diese Gefahr hat es nicht nur in den letzten zwei Jahren, sondern auch in den letzten 20 Jahren gegeben. Die Frage ist immer, ob es dann tatsächlich passiert. Oder was die Polizei vielleicht dann auch verhindert hat.

Wieners: Die Synagoge in Halle war nicht gesichert. Die jüdische Gemeinde hatte sich zum Glück diese Tür besorgt, die dem Attentäter standgehalten hat. Gekauft mit Spenden aus den USA.

Sachs: Auch in Köln ist die Synagoge selbstgesichert, durch einen eigenen Eingang, der nicht so einfach zu durchbrechen ist. Die Synagoge ist bewacht, aber trotzdem… Ob da ein Polizeiauto auf der anderen Straßenseite mit zwei Beamten steht oder ob diese Bewachung auch wirken kann, wenn es zu einem Anschlag käme… Also, ich glaube nicht, dass die beiden Polizisten, die da im Auto sitzen, in irgendeiner Form eine Chance hätten.

Wieners: Wenn ein Katholik zu Weihnachten in den Dom geht – und neuerdings gibt es da ja auch Sicherheitsmaßnahmen -, dann empfindet er ein Bauchgrummeln: „Huch, es ist nötig geworden, dass mein Gottesdienst bewacht wird.“ Für euch ist das Alltag.

Sachs: Ja, ich kenne es nicht anders. Und ich finde es schade, dass es so sein muss, aber auch da wieder: Es überrascht mich nicht, dass es so sein muss. Wenn es mich überraschen würde, dann würde ich ja vergessen, was in diesem Land passiert ist. Deutschland an sich ist, wie ich finde, ein tolles Land und die Menschen können für das, was sie haben, froh sein. Sie können sich glücklich schätzen, in einem solchen Land leben zu dürfen. Ich bin der Meinung, dass es eine Verantwortung mit sich trägt. Deswegen finde ich es vielleicht gerade etwas schade unter der aktuellen politischen Situation.

Wieners: Aus allem, was du sagst, schließe ich, dass es in deiner Familie keine Verbitterung gegeben hat.

Sachs: Das möchte ich nicht unterschreiben. Das kann ich nicht zu 100% sagen. Dass ich persönlich keine Verbitterung empfinde, das kann ich unterschreiben. Weil ich auch versuche, ein positiver Mensch zu sein, und Verbitterung würde mir an vielen Dingen den Spaß verderben. Das möchte ich nicht zulassen. Ich kann nicht – oder würde mir nie anmaßen – über Menschen zu sprechen, die vielleicht früher geboren wurden. Die Nachkriegskinder sind.

Wieners: Schreibst du irgendwann mal ein Buch über deine Großmutter?

Sachs: Ich glaube ja. Ich glaube, dass dafür noch ein bisschen Zeit ins Land gehen muss… dass ich mir auch sehr viel Zeit dafür nehmen muss… aber es wird mit Sicherheit irgendwann passieren. Und sei es nur für mich.

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